Prof. Dr. Ulrich Heinen

Gestaltungstechnik* und Kunstgeschichte

Prof. Dr. Ulrich Heinen

Contact

Gaußstr. 20
42119 Wuppertal
Raum: I.15.20
Telefon: 0202 439-5154
Telefax: 0202 439-5156

E-Mail persönlich: heinen@netcologne.de

uheinen@uni-wuppertal.de

Visiting hours

nach Vereinbarung.

*' Das Fachgebiet "Gestaltungstechnik" umfaßt u.a. die Sachgebiete der Teilstudiengänge "Mediendesign und Designtechnik" sowie "Farbtechnik/ Raumgestaltung/ Oberflächentechnik".

Curriculum Vitae
Vorträge und Tagungen
Publikationen
Institut für angewandte Kunst- und Bildwissenschaften (IAKB)


Jetzt ist es zu spät.
Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen.
Wer sich einen Überblick über den Stand der Debatte verschaffen will, findet hier überwiegend sehr lesenwerte Beiträge: Politik & Kultur. Zeitung des deutschen Kulturrates.
In einer wohlbegründeten Erklärung hat am 10. September 2022 der wissenschaftliche Beirat, den die Gesellschafter der documenta gGmbH berufen haben, um die als antisemitisch diskutierten Ausstellungsstücke der Documenta zu analysieren, im Konsens und seinem Auftrag entsprechend hinsichtlich eines Ausstellungsgegenstandes der Documenta die Notwendigkeit sofortigen Handelns wegen Volksverhetzung erkannt und benannt. Gegenstand der Beanstandung ist eine Kompilation, die Propagandafilme mit teils terroristischem Entstehungskontext als objektive Tatsachenberichte affimiert und historisch entkontextualisiert präsentiert. Zumal durch die zwischengeschalteten Kommentierungen legitimiert diese Zusammenstellung nach dem Urteil des Beirats Haß auf Israel sowie die Verherrlichung von Terrorismus und schlägt an vielen Stellen in offenen Antisemitismus um (scientific advisory panel of documenta fifteen: Press release, in: press releases of the documenta und Museum Fridericianum gGmbH, 10. September 2022).
Auf diese Erklärung des wissenschaftlichen Beirats reagierte zunächst die künstlerische Leitung der Documenta und publizierte einen Tag vor deren Veröffentlichung ein vom 18. Juli 2022 datierendes Staccato aus dem Repertoire der Opferkonkurrenz sowie des Gegenvorwurfs, wer den Antisemitismus der Documenta als solchen so benenne, sei seinerseits für Diskriminierung und Rassismus verantwortlich (Gudskul u.a.: Censorship Must Be Refused: Letter from lumbung community, in: We refuse, 9. September 2022).
Am nächsten Tag wiederholten die künstlerische Leitung sowie zahlreiche Mitzeichnende dieses Muster und ergänzten es um ein übles Narrativ, das gewöhnlich Populisten in den politischen Raum einbringen - das Heraufbeschwören kollektiven Zorns: "Wir sind wütend, (...) wir sind vereint." und: "Wir sind wütend, wir sind erschöpft, aber unser Kampf wird weitergehen." Wie nicht anders zu erwarten, werden dabei die Besucherinnen und Besucher der Documenta offen als Kombattanten von "transnationalen antikolonialen Kämpfen" ins Feld geführt, als "ein Publikum, das so engagiert ist wie wir, das (...) so wie wir in seinem Umfeld kämpft, das so wie wir um Solidarität bittet, und das so wie wir bereit ist, sich zu solidarisieren." Wer aber dieses Narrativ einschließlich der ihm systemisch eigenen und offen sichtbar gewordenen Antisemitismen kritisiert, sieht sich mit neuer Heftigkeit als feindselig und rassistisch beschimpft und diskreditiert und gebrandmarkt ("rassistische Tendenz in einer niederträchtigen [pernicious] Zensurstruktur“ – „teuflischer [vicious] Versuch“ – „feindliches [hostile] Umfeld“ – „Mechanismus der Weitergabe des Balls von Cyberbullies und rassistischen Bloggern an die Mainstream-Medien, an rassistische Angreifer vor Ort, an Politiker und sogar an Wissenschaftler“ – Ignorieren von Geschichte und Fakten „im Dienste rassistischer und hegemonialer Agenden“ – „teuflische [vicious] Manipulation“). Im Kontext der Zornes- und Kampfrhetorik des gesamten Textes liest sich dies (einschließlich der tendentiell antisemitischen Codeworte 'pernicious', 'vicious' etc.) durchaus auch als Einschüchterung und Bedrohung gegen die Kritiker. In der Kampf- und Solidaritätslogik des lumbung-Konzepts sieht sich so jede Besucherin und jeder Besucher durch die künstlerische Leitung der Documenta letztlich darin angeführt, diese mit ihrem oder seinem Besuch unterstützt zu haben und künftig zu unterstützen (Abdul Halik Azeez u.a.: We are angry, we are sad, we are tired, we are united, in: We refuse, 10. September 2022, Übers. U.H.).
Anstatt sich schützend vor die von der künstlerischen Leitung aus der Documenta heraus diffamierten und durchaus auch bedrohten Kritiker zu stellen, bekräftigt die Findungskommission wenige Tage später diese Diskreditierung und diffamiert ihrerseits die Kritik der nun auch unverstellt sichtbar gewordenen Antisemitismen der Documenta als "Gift" (wieder einantisemitisches Schlüsselwort) einer "gegenwärtigen Instrumentalisierung" des Antisemitismus, "die dazu dient, Kritik am israelischen Staat und seiner Besetzung palästinensischer Gebiete abzulenken." Anschließend finden sich die Besucherinnen und Besucher auch hier in den Dienst einer Legitimierung der Auswahl der künstlerischen Leitung sowie der durch diese geförderten und zum Kern der Einforderung von Solidarität fokussierten Antisemitismen genommen: "Wir stehen weiterhin hinter unserer Wahl von ruangrupa als künstlerische Leitung der documenta 15, wie wir es während des gesamten Prozesses ihrer Entwicklung und Realisierung getan haben. Wir freuen uns über die Hunderttausenden von Besuchern, die die Ausstellung gesehen und besucht haben und von ihr bereichert wurden. Wir glauben, daß auch ihre Stimme gehört werden sollte. Wir applaudieren den Künstlern, die angesichts der Angriffe auf ihre Integrität [d.i.: angesichts des Benennens von Antisemitismen als Antisemitismen, U.H.] standhaft geblieben sind und den Prinzipien von Lumbung [d.i.: der kollektiven Zwangssolidarisierung sowie dem damit verbundenen Ausschalten persönlicher Verantwortlichkeit, U.H.] treu geblieben sind. Wir fordern den Aufsichtsrat auf, dafür zu sorgen, dass die documenta fünfzehn bis zum geplanten Ende der Ausstellung in ihrer Gesamtheit [d.h.: sogar einschließlich von Austellungsobjekten, in denen der wissenschaftliche Beirat Volksverhetzung sieht, U.H.] geöffnet bleiben kann." (Finding Committee: The statement, in: press releases of the documenta und Museum Fridericianum gGmbH, 15. September 2022, Übers. U.H.).
Alles war bekannt. Alles war erwartbar.
Wer die Documenta besucht oder zu deren Besuch gedrängt oder auch nur geraten hat, darf sich daher nicht beschweren, nun zu den Unterstützerinnen oder Unterstützern der dort gepflegten systemischen und offenen Antisemitismen zu zählen. Wer am Party-Versprechen der Documenta partizipiert hat, war vorab breit informiert, daß sie oder er damit auch an dessen Kollektivismus-Logik der Verantwortungslosigkeit sowie der darin schon früh vorgesehenen antisemitischen Zwangssolidarisierung partizipiert. Niemand, die oder der dabei war, kann behaupten, sie oder er hätte sich doch bloß vor Ort ein eigenes Urteil bilden wollen. Wer sich wider besseren Wissens durch ihren oder seinen Besuch der Documenta beteiligt hat, ist und bleibt durch die künstlerische Leitung mitgezählt als Teil einer Kampfformation, deren Zorn nun gegen Kritiker von Antisemitismen dauerhaft in Stellung gebracht ist.
Exemplarisch gehört haben die Stimmen der Vielen, die die Documenta besucht haben, Meron Mendel und Julia Alfandari. Das Ergebnis war bestürzend: Das Kalkül des sytemischen Antisemitismus ist aufgegangen: Wenn das öffentliche Tabu wie bei dieser Documenta durch einzelne antisemitische Präsentationen erst einmal öffentlich verletzt ist, fällt bei den Vielen unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kunstsystems auch das Tabu, latent gepflegte persönliche Antisemitismen in großem Umfang und ohne jede Scham und Rücksicht offen auszusprechen (Sandra Kegel: Alles ein Plan des Mossad! Ein Gespräch mit Julia Alfandari und Meron Mendel, in: FAZ, 31.8.2022). Der systemische Antisemitismus hat sein Ziel sichtlich erreicht: Nachdem künstlerische Leitung und Findungskommission der documenta die Schleusen in den öffentlichen Kunstdiskurs geöffnet hat, gilt Antisemitismus bei Vielen im Kulturbereich nun sichtlich auch offen diskursfähig. Diese Vielen können und werden dabei gewiß auch gar nichts mehr dagegen einzuwenden haben, nun in der zornigen Kampfformation der künstlerischen Leitung gegen Kritiker der sichtbar gewordenen Antisemitismen ins Feld geführt zu werden. Alle anderen, die durch ihren Besuch das systemisch antisemitische Konzept der Documenta unterstützt haben, müssen sich aber ebenfalls zurechnen lassen, nun zu dieser Formation gezählt zu werden. Aber auch wo ein Besuch der Documenta – wie oft zu hören war – etwa an Universitäten und Schulen auf sozialen Druck erfolgt ist, wird man den Vorwurf nicht mehr loswerden, die eigene Widerstandskraft und -fähigkeit überschätzt und sich in einem markanten historischen Augenblick an der Unterstützung von Antisemitismen persönlich beteiligt zu haben.
In die Solidarisierung der zornigen Kampfformation der künstlerischen Leitung finden sich auch mehr als 25.000 "Schulkinder" (schoolchildren) mitgezählt und eingereiht (Head of Press: documenta fifteen at the halfway point with very good visitor numbers – more schoolchildren and season ticket holders, fewer group bookings, in: press releases of the documenta und Museum Fridericianum gGmbH, 8. August 2022). Die Presseerklärung, die diese Zahl bekanntgibt, spricht dabei noch von "gegenseitigem Lernen und Verständnis“ (mutual learning and understanding). Nimmt man den nun gänzlich unverstellt sichtbar gewordenen Wechsel der künstlerischen Leitung von dieser scheinbar friedlichen Diktion in die Rhetorik des zornigen Kampfes beim Wort, zeigt sich, dass die künstlerische Leitung der Documenta mit ihrer Solidarisierungsvereinnahmung aller Besucherinnen und Besucher auch diese Schulkinder, die Veranstaltungen wie dieser erfahrungsgemäß oft eher unwissend und unter institutionellem oder sozialem Druck zugeführt werden, nicht als Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner in symmetrischen Dialogen anerkannt hat, sondern ebenso wie alle anderen Besucherinnen und Besucher letztlich als Solidaritätsträger ihres zornigen Kampfes vereinnahmt hat und nun ins Feld zu führen beansprucht.
Zumal die künstlerische Leitung ankündigt, ihre Aktivitäten weiter fortzusetzen, werden globale Antisemitismen, die nun auch im Kultursystem nicht mehr nur verdeckt vorkommen, sondern offen hoffähig gemacht sind, in den kommenden Jahren erwartbarerweise mehr und mehr Raum beanspruchen. Wendet man die Metapher des „Giftes“, die von der Findungskommission – gewiß nicht unbewußt als klassische Metapher aus dem Repertoire des Antisemitismus – genutzt wird, um Kritiker des Antisemitismus und insbesondere den wissenschaftlichen Beirat zu diskreditieren, zum Verständnis dieses Kalküls in die Gegenrichtung, kann dies recht treffend bezeichnen, wie die künstlerische Leitung auch Schulkinder als Teil der Besucherinnen- und Besucherschaft in die Solidarisierung für ihren zornigen Kampf einbezieht: Das verabreichte Gift wird wirken.
An manchen Stellen haben Personen und Institutionen des hiesigen Kultursystems klar Stellung bezogen (exemplparisch etwa: Kulturrat: documenta fifteen. Sturheit, Ignoranz und Abwehr, in: Pressemitteilungen, 14. September 2022). Für alle anderen aber bleibt besonders beschämend, daß jüdische Organisationen und Personen hierzulande zunächst, hauptsächlich und viel zu lange dabei alleine gelassen wurden, und es ihnen zugemutet wurde, selbst Einspruch gegen offene und systemische Antisemitismen erheben zu müssen. Während an vielen anderen Stellen zum Besuch der Documenta ermuntert wurde und man sich an ihr zahlreich beteiligte, wurde die Abwehr der Antisemitismen der Documenta weitgehend so behandelt, als sei sie eine Angelegenheit der Aushandlung zwischen unterschiedlichen Interessengruppen, bei denen sich jüdische Organisationen und Personen halt selbst um ihre Interessen kümmern sollten, während sich alle anderen in der Rolle von Zuschauern eines Wettbewerbs um Pro- und Contra-Argumente zu Antisemitismen gefallen dürften. Die Zurückweisung von Antisemitismen ist keine Sache der Aushandlung, sondern eine aktive Aufgabe der gesamten Gesellschaft.
Beschämend war in diesem Zusammenhang auch, daß Viele eine Zurückweisung der Antisemitismen der Documenta nur in einem Atemzug mit anderen Konliktfeldern und menschengruppenfeindlichen Einstellungen (z.B. Dekolonialisierung, Rassismus, Migration, Intersektionalität) benennen wollten und dadurch relativierten.
Ausgesprochen werden muss allerdings auch, daß das von der Documenta gepflegte Diktum von den Stimmen des globalen Südens, die in der Documenta zur Sprache kämen, auch (aber keinesfalls nur) für die dort sichtbar gewordenen Antisemitismen irreführend ist. Was dazu aus dem globalen Süden vorgetragen wird, ist in den Argumentationsfiguren und -strategien und bis in die Details der Ikonographie ein spätes Echo des modernen Antisemitismus, der im 19. Jahrhundert in Europa konstruiert und der im deutschen Nazionalsozialismus dann in globaler Vernichtungsabsicht als Völkermord ausgeführt und ideologisch in alle Welt getragen wurde. Seine antisemitischen Ikonographien und Ideologeme übertrug der Nationalsozialismus auch an verbündete Bewegungen, die sich damals gegen die Kolonialisierung durch andere europäische Staaten wandten und hierzu mit dem Nazionalsozialismus verbündeten. Insbesondere wo dort bereits antijudaische Denkfiguren angelegt waren, konnten die Ikonographien und Ideologien des nationalsozialistischen Antisemitismus leicht aufgegriffen und amalgamiert werden und leben oftmals unkritisiert und ohne Bewußtsein für ihre historische und systemische Genese bis heute fort. Knapp angesprochen ist dieser Transfer etwa bei Richard C. Schneider: Alleingelassen. Antisemitische Tendenzen des 'Globalen Südens' und des Westens finden auf der documenta zusammen, in: Politik & Kultur. Zeitung des deutschen Kulturrates, 30. August 2022; zur Präsenz des Nationalsozialismus in Indonesien in den 1930er und 1940er Jahren sowie zur späteren Orientierung des Aufbaus politisch-religiöser Bewegungen in Indonesien am Nationalsozialismus vgl.auch Jeffrey Hadler: Translations of antisemitism. Jews, the Chinese, and violence in colonial and post-colonial Indonesia, in: Indonesia and the Malay World 32.94, 2004, S. 291-313.
In der sichtbar gewordenen Fratze des globalen Antisemitismus blickt man bei dieser Documenta aus Europa und Deutschland heraus also letztlich in die Fratze der hiesigen Geschichte. Wie mit den Lumpen, die man von hier aus in alle Welt entsorgt zu haben glaubte, und die „The Nest“ nun mit der Installation „Return to Sender – Delivery Details“ an zentraler Stelle der Documenta symbolisch zurücksendet, werfen Akteurinnen und Akteure aus verschiedenen Teilen der Welt bei dieser Documenta mit den Ikonographien und Medienstrategien der globalen Antisemitismen den hiesigen Betrachterinnen und Betrachtern nolens volens letztlich die Relikte der hiesigen Antisemitismus-Produktion vor die Füße, die man hier seit Jahrzehnten in andere Teile der Welt entsorgt zu haben glaubte. Der Appell, sich selbst um den eigenen Müll zu kümmern, gilt daher auch hier - und das kollektive Versagen ist dasselbe.
Die Zusammenhänge sind zumal in den Ikonographien phänomenal offensichtlich, auch wenn ihre Geschichte wissenschaftlich noch nicht umfassend erschlossen ist. Eine der Folgen aus dem nun Erkannten müßte daher im Sinne einer Bereinigung der im Re-Import erfahrenen hiesigen ideologischen Müllexporte sein, daß die vielfältigen globalen Verbindungen zwischen dem historischen Nationalsozialismus und verschiedenen historisch gewachsenen Antikolonialismen in ihrer gesamten Komplexität und ihrer globalen Perspektive historisch differenziert aufgearbeitet werden. Einen differenzierten Einstieg hierzu bietet etwa Hans Goldenbaum: Nationalsozialismus als Antikolonialismus. Die deutsche Rundfunkpropaganda für die arabische Welt, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 64.3, 2016, S. 449-490; (Hans Goldenbaum: Das nationalsozialistische Deutschland und die arabische Welt (Rezension, in: sehepunkte 17.2, 2017 [15.02.2017])), doch unendlich viel ist hier noch zu tun. Von diesem Anliegen darf auch die Angst davor niemanden abschrecken, daß dabei sichtbar werden könnte, daß und wie die Antisemitismen in dieser Documenta die historische Nähe und Kontinuität spezifischer Aspekte des historischen Antikolonialismus zu spezifischen Aspekten des Nationalsozialismus fortschreiben. Auch den berechtigten Anliegen der verschiedenen Antikolonialismen wird eine solche Revision mehr Klarheit in eigener Sache und dann gewiß auch mehr ungebrochene Zustimmung verschaffen. Wer aber an Veranstaltungen, die offene oder systemische Antisemitismen dulden oder sogar fördern, teilnimmt, wird dann klarer erkennen können, daß sie oder er nur das Geschäft eines kulturalistischen Nationalsozialismus betrieben hat, der nicht etwa historisch abgeschlossen ist, sondern sich globalisiert hat, in dieses Land nun zurücktransportiert wird und durch jede Teilnahme an mit ihm in Verbindung stehenden Aktivitäten neu unterstützt wurde und wird.

Köln, 18. September 2022 Ulrich Heinen


Warum ich mir eigentlich sicher bin, daß meine Studentinnen und Studenten die Documenta meiden werden
Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen.
in meinen Lehrveranstaltungen versuche ich auch zu verdeutlichen, daß viele Bilder und ihre Macher immer schon zu den Treibern von Unmenschlichkeit und Totalitarismen zählten. Oft war und ist gerade dieser Zusammenhang konstitutiv für den Anspruch, 'zeitgemäß' oder 'modern' zu sein oder sich auf 'Herausforderungen der Zukunft' berufen zu wollen. Immer wieder schloß das auch Antijudaismen, Antizionismen und Antisemitismen ein.
Auch wenn eine solche Tendenz vermutlich nicht in der Absicht der meisten Akteurinnen und Akteure der diesjährigen Documenta gelegen hat, wurde diese Veranstaltung in den vergangenen Wochen und Tagen doch öffentlich als Spitze dieses Eisbergs erkennbar. Ein Gastbeitrag im Spiegel formuliert zu einem dort ausgestellten Bild: "Diese Kunst tötet. Judenhass bei der Documenta." Der Bundespräsident hat noch vor Bekanntwerden dieses Bildes in seiner deutlich kritischen Eröffnungsrede erklärt, überlegt zu haben, seine Teilnahme an der Eröffnung abzusagen. Der Bundeskanzler fügt hinzu, daß er die Documenta wegen der dort erst nach massiver Kritik abgehängten antisemitischen Darstellungen ausdrücklich nicht besuchen werde, und fordert Konsequenzen.

Wer mit den Sachverhalten noch nicht vertraut sein sollte, kann leicht selbst recherchieren, was diese Documenta angerichtet hat. Zum Einstieg einige Links zu aktuellen Kommentaren, die auch die wesentlichen Fakten benennen und einordnen:

Ein Auszug aus dem, was als Sachverhalt konstatiert werden muß:

  • Eindeutig antisemitische Stereotype und Feindlichkeit gegen Multikulturalismus in einem großflächigen Gemälde,
  • Verharmlosung des Holocaust und Dämonisierung Israels durch dessen Gleichsetzung mit Nazideutschland und die Infragestellung seines Existenzrechts in anderen Werken,
  • Weitgehend unkommentiertes Vorführen terrorverherrlichender antiisraelischer Propagandafilme ,
  • BDS-Nähe, -Sympathie oder -Verharmlosung auf allen Organisationsebenen (also Verherrlichen einer globalen Bewegung, die den Nazislogan leicht modifiziert fortschreibt, "Wehrt Euch! Kauft nicht beim Juden!" Zur Einordnung von BDS siehe etwa die Antwort der Bundesregierung – Drucksache 19/14941 – Haltung und Maßnahmen der Bundesregierung gegenüber der BDS-Bewegung, in: Deutscher Bundestag Drucksache 19/15652, 19. Wahlperiode 3. Dezember 2019),
  • Systematische Vermeidung der Einladung jüdischer Künstlerinnen und Künstler (bei insgesamt 1.500 teilnehmenden Künstlerinnen und Künstlern, die in einem vielstufigen Kaskadensystem der Verantwortungsverschleierung an Kuratorengruppen und deren Subgruppen bestimmt wurden, wohl kaum Ergebnis eines bloßen Zufalls),
  • Fehlende Bereitschaft, umittelbar nach Sichtbarwerden der Antisemitismen Vertreterinnen und Vertretern der jüdischen Gemeinschaft einen angemessenen Raum zur Entgegnung zu geben,
  • Unverantwortlichkeit und wochenlang fehlende Einsicht in die Eindeutigkeit und Verwerflichkeit dieser Menschenverachtung auf den meisten Organisationsebenen der Documenta,
  • Erheben des Gegenvorwurfs, wer den Antisemitismus im Zusammenhang der Documenta anspreche, mache sich seinerseits einer gegen den globalen Süden gerichteten fehlenden Kultursensibilität, einer Fortschreibung des Kolonialismus und fehlender Dialogfähigkeit schuldig.

Zumindest wer in meinen Lehrveranstaltungen etwa Bazon Brocks Unterscheidung von Kultur und Zivilisation kennengelernt oder Beat Wyss' 'Der Wille zur Kunst' gelesen und durchdacht hat, wird - so meine Hoffnung und auch Gewißheit - sicher schon selbst erkannt haben, daß es bei dem Skandal nicht bloß um ein paar enthumanisierende Bildchen mehr oder weniger geht, über die man hin- und herdiskutieren und die man dann vielleicht verhüllen oder abhängen kann, um letztlich zur Tagesordnung überzugehen und ein heiteres Fest zu feiern, sondern daß in der gesamten Konstellation von Bildern, Filmen, Eingeladenen (und eben nicht Eingeladenen) sowie institutionellen Strukturen und Verflechtungen ein systemischer Zusammenhang zwischen spezifischen Bewegungen und Prinzipien der aktuellen Neubestimmung des Kunstsystems im globalen Rekulturalisierungskontext und Antisemitismen wirksam wird. Aber auch wer Erwin Panofskys humanistische Forderung verinnerlicht hat, Bilder grundsätzlich als Beitrag zu Ideologien ernstzunehmen, wird in der Aufnahme solcher Bilder in den Kanon einer Documenta mindestens ein Symptom für einen problematischen Zustand der sie tragenden Systeme - sowohl des Systems Documenta wie des aktuellen Kunstsystems insgesamt - begreifen.
Es kann daraus spontan nur einen Schluß geben: Zu so etwas geht man nicht hin ! An so etwas nimmt man nicht teil !
Es darf nicht sein, daß über den Kunstdiskurs global grassierende Antisemitismen salonfähig werden und daß es dafür ein Publikum gibt. Abgesehen davon, daß schon die natürliche Scham dagegen spricht, sich zum Teil eines Events zu machen, das sich in antisemitischen Konstellationen und Ikonographien artikuliert, wird man solche Veranstaltungen auch grundsätzlich gewiß nicht dadurch unterstützen wollen, daß man in deren Erfolgsbilanz mitgezählt wird, in der eben jeder Besucher und jede Besucherin zählt !
Zumal in einem Land mit dieser Geschichte versteht sich das alles eigentlich von selbst. Daher nehme ich an, daß Sie ohnehin schon entschieden haben werden, nicht zur Documenta zu fahren.
Um Sie in Ihrem Entschluß zu bestärken, schreibe ich es hier aber doch noch auf - und dies auch, damit niemand später sagen kann, er habe es nicht gewußt !

Daß der Antisemitismus auf der Documenta seinerseits - wie vor 90 Jahren - Folge, Symptom und Mittel einer propagierten und vollzogenen Liquidierung des Weltgedankens individueller Bedeutung, Würde und Verantwortung zugunsten der Repräsentation kulturalistischer Machtansprüche ist, benennt treffend Bazon Brock in: Kultur heute - Deutschlandfunk, 21. Juni 2022. Joshua Schneider fordert entsprechend ganz klar eine generelle Umkehr im Diskurs: "Mehr Universalismus wagen!" Joshua Schultheis: documenta: Mehr Universalismus wagen!, in: Jüdische Allgemeine 23. Juni 2022.
Es geht nicht um irgendein Skandälchen, es geht ums Ganze. Besonders fatal ist bei all dem, daß die Documenta den Diskurs zur globalen Gerechtigkeit auf dessen Kosten für das Kunstsystem usurpiert und diesen Diskurs dabei nachhaltig mit Antisemitismen kontaminiert hat. Die zentrale Metapher des Documentakonzepts, die 'Reisscheune' (Lumbung), mag vielleicht gut gemeint gewesen sein, sie unterläuft in ihrer mangelhaften Recherche aber schon als solche die Komplexität des Themas [Jan von Brevern: Die Rückkehr der Scheune, in: Merkur 23. September 2021.. Im Blick auf diese unpassende Metapher wie auf den nun damit verbundenen Skandal verdichtet sich die Einsicht, daß das aktuelle Kunstsystem und seine Akteurinnen und Akteure dem nicht gewachsen sind, sich Zuständigkeit für den Globalitätsdiskurs zuzuschreiben. Leicht erkennt man auch, daß es bei der eher vermessenen Kompetenzzuschreibung eben nicht um Arbeit an globaler Gerechtigkeit, sondern paradoxerweise dann doch nur um einen Versuch ging, dem Kunstsystem über seine aktuelle Marginalität hinwegzuhelfen. Dieser Versuch ist vollständig gescheitert. Diejenigen, denen es um globale Gerechtigkeit, wie diejenigen, denen es um Kunst geht, und erst recht die, die dies verbinden möchten, hinterläßt die Documenta noch ratloser.
Die große Kunst kann in beiden Feldern und ihrer Verbindung künftig nur darin bestehen, der in der Documenta zelebrierten Liquidierung des Prinzips individueller Bedeutung, Würde und Verantwortung das einer personalen (Mit)verantwortung im und am globalen Zusammenhang entgegenzustellen. Es ist daher sehr zu hoffen, daß sich einige Akteurinnen und Akteure, die mit ihrer Arbeit auch auf der Documenta sichtlich solche Wege gehen wollten, aus der systemischen Verstrickung befreien können und künftig in einem der Problemkomplexität angemesseneren Kontext wirksam und sichtbar werden.
Skeptisch macht in dieser Hinsicht allerdings, daß bisher offensichtlich noch keine Künstlerin und kein Künstler die Konsequenz aus dem Skandal gezogen hat, sich von der Documenta distanziert hat oder von der Documentateilnahme zurückgetreten ist. Verhindert dies das kulturalistische Konzept der Documenta, in der jede Akteurin und jeder Akteur ihre und seine personale Verantwortung an die Gruppe abgegeben hat?

Zu all dem gibt es bei Ihnen sicherlich einigen Gesprächsbedarf. Sprechen Sie miteinander darüber, und sprechen Sie auch mich gerne darauf an !
Anstelle der Documenta empfehle ich, die gewonnene Zeit für einen Besuch etwa des Felix-Nussbaum-Hauses in Osnabrück oder des Jüdischen Museums in Berlin zu nutzen.

Ihnen allen wünsche ich, daß Sie der Verstickung des Kunstsystems mit klarem Verstand entkommen können und Kunstpädagogik als eine Chance dazu sehen, diese Verantwortlichkeit auch Ihren Schülerinnen und Schülern zu vermitteln.

Köln, 23. Juni 2022, aktualisiert am 25. Juni, 27. Juni und 4. Juli 2022
Ulrich Heinen


Klarstellung in eigener Sache
Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen.
Dem Vernehmen nach ist in sozialen Netzwerken im Umlauf, ich sei möglicherweise "Coronaleugner", Anhänger der sog. "Querdenkerbewegung", "Verschwörungstheoretiker", "Impfgegner" o.ä.
Daher stelle ich hier gerne auch öffentlich klar, was diejenigen, die mit mir unmittelbar zu tun haben, ohnehin wissen: Das Gegenteil ist der Fall!
Seit Anfang der Pandemie halte ich - auch vor dem Hintergrund meines naturwissenschaftlichen Studiums - harte Anti-Coronamaßnahmen persönlich für einzig sachgerecht. In weiten Teilen hätte ich sie mir sogar noch weit deutlicher gewünscht und erwarte, daß sie sich in den kommenden Monaten - notgedrungen - auch noch dorthin werden entwickeln müssen. Dies habe ich bei jeder sich bietenden Gelegenheit im Privaten wie gelegentlich auch am Rande meiner beruflichen Tätigkeit immer eindeutig vertreten. Aus gegebenem Anlaß spreche ich es hier gerne auch öffentlich aus. Im Sinne meines kritisch-rationalistischen Verständnisses naturwissenschaftlichen Wissens bin ich mir dabei aber stets auch dessen bewußt, daß sich meine Einschätzung der Sache später möglicherweise als falsch erweisen kann.
Um nicht nur diejenigen zu erreichen, die ohnehin mit mir und der Mehrheit im Lande derselben Ansicht sind, habe ich zuletzt auch einen Kontext gewählt, in dem die Anti-Corona-Maßnahmen ansonsten eher in Frage stehen. Im kunst- und kulturhistorischen Zusammenhang der Entstehung von zivilgesellschaftlichem Denken um 1600 habe ich dort ein Grundprinzip von Zivilgesellschaft und Demokratie betont: Deren Grundlage ist zunächst der gegenseitige Respekt vor unterschiedlichen Einschätzungen der Sache, auch wenn man diese Einschätzungen möglicherweise selbst nicht nachvollziehen kann oder mag (in den Worten meines - dabei einen Gedanken Hannah Arendts ausführenden - akademischen Lehrers Ernst Vollrath in 'Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft': "Das politische Urteil geschieht in Ansinnung von Zustimmungsbereitschaft"). Daraus leitet sich dann ab, daß in Ausnahmesituationen - wie etwa in dieser Pandemie - ein notwendiges gemeinsames Handeln gerade wegen des gegenseitigen demokratischen Respekts auch denen zumutbar ist, die selbst eine andere Einschätzung haben. Die Chance, meinen grundsätzlichen demokratischen Respekt auch vor Einschätzungen, die ich selbst nicht teile, mit einem Eintreten für einen ebensolchen Respekt vor einer Befürwortung der Anti-Coronamaßnahmen zu verbinden und dabei die allgemeine Zumutbarkeit gemeinsamen Handelns zu betonen, wollte ich nicht ungenutzt lassen. Eingebunden war das in eine kulturhistorische Skizze der neustoischen Erkenntnislehre und ihrer Bedeutung für Krisenbewältigung und protoaufklärerisches Denken und Handeln um 1600 in Kunst, Ethik, Naturwissenschaften und Politik. Ich sehe dies auch als Beitrag dazu, den für Demokratie und Zivilgesellschaft wie auch für die Bewältigung der Pandemie existentiellen Zusammenhalt der Gesellschaft gerade unter dem Druck der Pandemie aufrechtzuerhalten.
Zu meiner persönlichen Einschätzung der sachlichen Notwendigkeit und Angemessenheit von Anti-Coronamaßnahmen wie Lockdowns und ggf. auch Impfpflicht gehört in diesem Sinne auch, daß ich die Lasten, die solche notwendigen Maßnahmen zwangsläufig mit sich bringen, sowie deren asymmetrische Verteilung nach Alter, Geschlecht, Herkunft, Beruf und Lebensverhältnissen nicht übersehe. Daß dies gerade auch Befürworter der Anti-Coronamaßnahmen benennen und zur Linderung solcher Folgen beitragen sollten, wäre nicht nur meiner Überzeugung nach auch Teil einer effektiven Bekämpfung der Pandemie. Wo ich hierzu etwas tun kann, versuche ich auch dies.
Die jahrtausendealte Kunst-, Sozial- und Kulturgeschichte der gesellschaftlichen Wirkung von Seuchen zeigt, daß sich eine langanhaltende bedrohliche Belastung durch Epidemien Ventile sucht. Folge sind dann erfahrungsgemäß auf allen Seiten Orientierungslosigkeit, allerlei Verschwörungstheorien, irrationale Immunitäts-, und Erlösungserwartungen und gelegentlich bis ins Berufliche und Persönliche übergreifende Gerüchte und Schuldzuweisungen. Alles kann dann zum Indiz umgedeutet werden, um den eigenen Weg der streßsenkenden Komplexitätsreduktion zu bestätigen. Insofern weiß ich auch das offensichtlich in Umlauf befindliche Gerücht durchaus als Ausdruck echter Sorgen und Nöte einzuschätzen. Gegen diesen Mechanismus hat aber immer schon nur schonungslose Nüchternheit im Blick auf die Sache selbst geholfen, hier also auf den Charakter der Pandemie und die Einsicht, ihr nur durch gemeinsames Handeln und Konzentration auf die erforderlichen Maßnahmen sowie auf Humanität und Demokratie als gemeinsame Leitprinzipien effektiv begegnen zu können.
Sollte nach dieser Erklärung weiterhin Unklarheit über meine Haltung bestehen oder im Umlauf sein, kann ich dies gerne noch weitergehend erläutern. Ungeklärte Gerüchte und ein Reden über statt mit jemandem erschweren letztlich die gemeinsame Konzentration auf die Pandemiebekämpfung und auf sinnvolle Begleitmaßnahmen zur Linderung der Folgen.

Ihnen allen nun erst einmal ein Frohes Weihnachtsfest und ein gesegnetes Neues Jahr voll Gesundheit und Glück.

Köln, 18. Dezember 2021 Ulrich Heinen